Michael Stoeber
Ohnmacht und Omnipotenz
Zum Werk von Andrea Neuman
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Malerei und Fotografie trägt alle Zeichen einer never ending story. Als die Fotografie in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erfunden wird, macht sie schlechte Maler arbeitslos, guten gibt sie eine neue Freiheit. Da das fotografische Bild als Abbild besser ist als jede Malerei, löst die Fotografie den Maler aus der sklavischen Bindung an die Mimesis. Durch die Fotografie gewinnt er die Möglichkeit, sich ästhetisch radikal auszuprobieren. Während das Lichtbild den Maler zu innovativen Ausdrucksexperimenten beflügelt, versuchen die Fotografen sich als Künstler zu legitimieren, indem sie die Malerei nachahmen. Jahrzehntelang blockiert der Piktorialismus in der Fotografie die Besinnung auf weiter reichende Möglichkeiten des Mediums. Nach eineinhalb Jahrhunderten hat sich die Konkurrenzsituation zwischen Malerei und Fotografie im Prinzip erledigt, nicht zuletzt deshalb, weil die Fotografie als eigenständiges artistisches Ausdrucksmedium inzwischen anerkannt ist. Es herrscht nicht mehr Konkurrenz, sondern Konvergenz. Maler adoptieren fotografische Mittel wie Schwarzweißkontraste, Ausschnitthaftigkeit und Unschärfen für ihre Gemälde, Fotografen kultivieren aufs neue malerische Momente in ihren Bildern, ohne fürchten zu müssen, deshalb von Medienpuristen als einfallslose Plagiatoren denunziert zu werden.
Andrea Neuman ist eine Künstlerin, bei der die Konvergenz zwischen Fotografie und Malerei die Signatur ihres Werkes ist. Wie will man benennen, was sie künstlerisch tut. Ist sie eine Fotografin? Zweifellos. Ist sie eine Malerin? Ebenso unzweifelhaft. Ihr Werk lebt von der Spannung, welche die Konfrontation der beiden unterschiedlichen Medien in einem gemeinsamen Bild erzeugt. Dabei steht das Handschriftliche und eher Subjektive der Malerei in einem ebenso kontrastiven wie komplementären Verhältnis zum Apparat erzeugten und eher objektiven Bild der Fotografie. Zwei unterschiedliche Ausdrucksmodi und Temperamente stoßen in Neumans Werken zusammen, reiben sich aneinander und erzeugen wie in einer gelingenden Metapher aus zwei Bildern ein drittes. Der Charakter von Neumans Malerei ist abstrakt. Dabei rufen die mal lasierend, mal pastos und opak gesetzten Pinselzüge und Pinselhiebe ganz unterschiedliche Assoziationen auf. Serielle Strukturen lassen an Streifen- und Farbfeldmalerei denken, gestische Modulationen an das Informel. In jedem Fall erfährt die abstrakte Malerei durch die gegenständliche Fotografie Bodenhaftung, während umgekehrt die Fotografie durch die Malerei inhaltlich und atmosphärisch aufgeladen wird. Eine Art konnotativer und denotativer Neukodierung setzt ein.
Dieser Prozess eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Malerei und Fotografie und einer Neusemantisierung des Bildes hat sich in den letzten Jahren in Neumans Werken deutlich verstärkt. Das macht der Vergleich einiger New York-Bilder unmittelbar sichtbar. Die Stadt, in der Neuman als Künstlerin fast zehn Jahre gelebt und gearbeitet hat, spielt als künstlerisches Motiv in ihrem Werk eine persistente Rolle. Schauen wir auf die “New York Skyline”-Bilder aus dem Jahre 2000 oder auf die “Wallstreet”-Bilder aus dem Jahr davor, wird deutlich, dass die Farbe im Verhältnis zur Fotografie eher die Rolle einer Moderatorin spielt. Die Farbe nimmt hier Einfluss auf Temperament und Temperatur der Bilder. Das frivole Pink stiehlt den Wallstreet-Bildern die Seriösität, die man mit dem Ort verbindet und bringt eine spielerische Leichtigkeit in das geschäftige Treiben dort. Und das warme Orange, das Neuman in die frostig kalte Skyline von Manhattan schmuggelt, nimmt der Stadt das Abweisende und lässt auch Newcomer hoffen, es hier zu schaffen (“To make it there”). Ganz anders dagegen Neumans Ansicht von Big Apple aus dem Jahre 2005. In “Op. NYC” spannt die Künstlerin die panoramatische Ansicht von New York ein in eine gemalte, ornamentale Struktur. Wir sehen die Stadt wie einen schmalen Fries inmitten goldfarbener Blätter, Blüten und Rocaillen auf zartlila Grund. Das Ornament umfasst die schwarzweiße, harte Ansicht von New York, die so etwas Unwirkliches, Abstraktes, Arabeskenhaftes bekommt. Die sich schimärisch entzieht und zugleich konkret bleibt. Wobei ihre Konkretheit aber auch ins Märchenhafte entgleitet. Malerei und Fotografie verbinden sich hier zu einer gleichgewichtigen Synthese, in der beide dazu beitragen, ihr Motiv neu zu erzählen.
Von der Neucodierung des fotografischen Bildes durch die Malerei erzählen auch die großen Gemälde aus den letzten beiden Jahren. “Terminal II” (2006) zeigt eine Reihe von Menschen, in denen man mit Blick auf den Titel des Werkes Reisende in einem Flughafen auszumachen vermag. Ihre Lokalisierung in einem blutroten Farbsee lässt von diesem Eindruck indes nicht mehr viel übrig. Sie erscheinen vielmehr wie Verlorene in einem Danteschen Inferno. Kein Halt, nirgends. Wie die Farbe wunderbar widersprüchlich, zugleich dynamisch und strukturiert, gezügelt und expressiv, aufgebracht ist, so wirken auch die Menschen als Gestalt gewordene Paradoxa. Sie sind allein und zusammen, Einzelne und Massenornament, Sich Treibende und Getriebene. Das Bild vereint viele Widersprüche. Nicht zuletzt den Widerspruch eines geordneten Chaos – oder einer chaotischen Ordnung – der exemplarisch scheint für das Leben selbst. Auch “Pandämonium” (2006) ist eine koloristische tabula rasa, in der die Menschen treiben wie in einer “schwarzen See von Plagen” (Hamlet). Im oberen rechten Bildviertel werden sie ausschnitthaft und fragmentarisch gezeigt, mehr bewegte Torsi als atmende Menschen. Lebend tot. Bereits die Geister, die sie einmal sein werden und auf die der Titel verweist. Diesem Schicksal scheinen die beiden Läufer in “Instinct” (2006) entfliehen zu wollen wie die täglich auf unseren Straßen und in Parks zu sichtenden Heerscharen von Joggern. Der Rhythmus des Atems, der das Leben selbst ist, das Ein- und Ausatmen, spiegelt sich in der Struktur der weißen Monochromie. Und dennoch führen die unterschiedlichen Größenverhältnisse zwischen dem weiten, weißen, die Unendlichkeit von Raum und Zeit reflektierendem Bildgrund und den winzigen kleinen, schwarzen Figuren darauf die Lächerlichkeit eines Unternehmens vor Augen, das vergeblich dem Verlöschen zu entrinnen versucht.
Die Neucodierung des indexalischen Gehaltes der Fotografie durch die Farbe bestimmt auch die aktuellen Bildserien der Künstlerin. In der “Reise nach Jerusalem” (2006) wie in “Missing the Right Moment. Folgsamkeit und Gefügigkeit” (2006) deckt die Farbe das Foto soweit zu, dass nur noch einzelne Menschen sichtbar sind. Zwischen ihnen, nicht allen, bestehen Verbindungslinien, welche durch die Ordnungsprinzipien der unter der Farbe liegende Aufnahme konstituiert werden. Dadurch schafft Neuman ein seltsames, nicht zu durchschauendes Geflecht von In- und Outsidern, von Operateuren und Marginalisierten und damit eine Art soziologisches Diagramm unserer Welt, wie es schlagender und einprägsamer nicht sein könnte. Dass die Zugehörigkeit zu den Operateuren immer auch ihren Preis in einer spezifischen Disziplinierung hat, verrät nicht nur der Untertitel der einen Serie, sondern das machen auch Bilder deutlich, in dem diese kopflos auf einem Sockel stehen. Die Serie “Lost Dreams” (I-IV) aus dem Jahre 2006 zeigt ein Paar in Rückenansicht, versunken in den romantischen Anblick des Bodensees. Aber die Idylle ist wie das Paradies längst verbrettert und vernagelt. Bereits Büchners “Leonce und Lena” haben uns im neunzehnten Jahrhundert davon Mitteilung gemacht. Gott, Erhabenheit, Aufgehobensein, die großen sinnstiftenden Erzählungen – alles perdu. Neumans an Streifenmalerei erinnernder Strichcode erzählt vom Ausverkauf des Naturschönen im buchstäblichen und übertragenen Sinne.
Wieder mehr Raum geben der Fotografie die beiden Bildserien “Home Sweet Home” (2006) und “Mord im Central Park” (2005). Allerdings ohne dabei das Indexalische des Lichtbildes zum Zuge kommen zu lassen. Die Fotografie überlistet sich hier aus eigener Kraft. Sie schafft im Rahmen der Serie die Verrätselung ohne Farbe und ohne Malerei ganz aus sich selbst heraus. “Home Sweet Home” zeigt eine Einfamilienhaus-Idylle im Grünen. Sie wird bedroht durch Nietzsches “Fluten des Nihilismus”, hier in Gestalt eines modernistischen Hochhauskomplexes einerseits und eines bräunlichen Schlamms andererseits, der wie nach einer Naturkatastrophe als schmutziges Ocker gegen das Häuschen andrängt. Die Fragilität und das Ausgeliefertsein dieser Idylle forciert die Künstlerin auch durch die fotografische Draufsicht. Eine Perspektive, in der das Motiv fixiert wird wie das Präparat unter einem Mikroskop. Ohnmacht und Omnipotenz bedingen sich hier in einer Weise, dass es in den letzten beiden Bildern der Serie überhaupt keine Malerei mehr braucht zur Hypostasierung existentieller Unsicherheit. Auch in der Werkserie “Mord im Central Park” (2005) funktionieren Bilder, in denen Neuman Farbe äußerst reduziert und minimalistisch einsetzt, nach ähnlichem Prinzip. Der Zyklus erinnert an Antonionis Film “Blow-up”, wo ein Fotograf glaubt, im Londoner Hyde Park Zeuge eines Mordes geworden zu sein, den er fotografiert haben will. Er vergrößert seine Bilder immer stärker, um so dem Geschehen auf die Spur zu kommen. Dabei löst sich die Wirklichkeit am Ende immer mehr auf in ein unverbindliches Tableau aus abstrakten Flecken und Linien. Andrea Neuman kehrt die Perspektive um. Sie fokussiert das Detail. Und hinter der Ansammlung von Einzelmotiven, welche die Farbe hervorhebt, ein Messer, ein Mensch, ein Stuhlrücken, eine Fensterreihe, verschwindet das Ganze und damit jeder plausible Zusammenhang. Beiden Werken gemeinsam ist, dass hier wie da die sinnstiftende Erzählung nicht mehr selbstverständlicher Teil unseres Lebens ist.